Skip to main content
Jetzt Spenden

Afghanistan: Polizistinnen berichten über Missbrauch in der Vergangenheit und Drohungen der Taliban

Länder, die die Ausbildung von Polizistinnen finanziert haben, sollten gefährdeten Frauen Schutz gewähren

Polizistinnen und Polizisten aus Afghanistan bei ihrer Absolventenfeier in Herat, Afghanistan, am 20. Dezember 2012.   © 2012 AP Photo/Hoshang Hashimi
  • Die Taliban-Behörden haben afghanische Frauen bedroht, die unter der vorherigen Regierung bei der Polizei gearbeitet hatten. Diese Frauen sind ohnehin schon Gewalt durch Familienmitglieder ausgesetzt, denen ihr früherer Beruf ein Dorn im Auge war.
  • Afghanische Polizistinnen fühlen sich gleich doppelt verraten: einmal durch die frühere afghanische Regierung, deren Beamte für schweren sexuellen Missbrauch verantwortlich sind, und dann durch die Länder, die wegschauten und nicht bereit waren, Geflüchteten Asyl zu gewähren.
  • Länder, die Programme zur Ausbildung und Einstellung von Frauen in der afghanischen Polizei unterstützt haben, darunter die USA, Kanada, Deutschland, Japan und die EU, sollten afghanische Frauen, die Asyl suchen, unterstützen und ihnen im Rahmen von Resettlement-Programmen Vorrang einräumen. 


(New York) – Die Taliban-Behörden haben afghanische Frauen, die unter der vorherigen Regierung bei der Polizei gearbeitet hatten, bedroht und sie damit in Gefahr gebracht, so Human Rights Watch in einem heute veröffentlichten Bericht. 

Der 26-seitige Bericht mit dem Titel „Double Betrayal: Abuses against Afghan Policewomen Past and Present“ (dt. etwa: Doppelter Verrat: Missbrauch und Rechteverletzungen von afghanischen Polizistinnen unter der früheren Regierung und jetzt) dokumentiert, dass die Taliban-Behörden seit August 2021 viele ehemalige Polizistinnen bedroht haben und diese danach untertauchen mussten.

Während ihrer Tätigkeit für die frühere Regierung wurden Hunderte von Polizistinnen von männlichen Kollegen und Vorgesetzten sexuell belästigt und angegriffen, einige auch vergewaltigt. Die Verantwortlichen wurden nie zur Rechenschaft gezogen. Ehemalige und derzeitige Polizistinnen in Afghanistan und in Ländern, in denen sie untergetaucht sind oder Asyl suchen, haben von den langfristigen psychischen Folgen und den Traumata berichtet, die sie durch den Missbrauch erlitten haben. Zudem müssen sie Vergeltungsmaßnahmen seitens ihrer Familien und der Taliban fürchten.

„An afghanischen Polizistinnen hat man gleich zweifach Verrat geübt: einmal die frühere afghanische Regierung, die nichts gegen den schweren sexuellen Missbrauch unternahm, und dann die Länder, die wegschauten und nicht bereit waren, geflüchtete Frauen aufzunehmen oder ihnen Asyl zu gewähren“, sagte Fereshta Abbasi, Afghanistan-Expertin bei Human Rights Watch. „Seit der Machtübernahme durch die Taliban mussten ehemalige Polizistinnen fliehen, nachdem sie von den Behörden bedroht wurden. Auch innerhalb der Familie haben sie vermehrt Gewalt durch Familienangehörige erfahren, die nicht wollten, dass sie als Polizistinnen arbeiten.“

Der Bericht basiert in erster Linie auf 24 Interviews, die Human Rights Watch mit Frauen geführt hat, die unter der früheren Regierung als Polizistinnen tätig waren. 10 Interviews wurden persönlich geführt, 9 per Videocall mit Frauen in fünf Provinzen Afghanistans sowie 5 mit ehemaligen Polizistinnen, die heute in den USA, in Schweden, Italien, Iran und Pakistan leben. Human Rights Watch hat auch frühere und derzeitige Mitarbeitende der Vereinten Nationen und zivilgesellschaftliche Akteure befragt, die mit dieser Problematik vertraut sind.

Ehemalige Polizistinnen sprachen von Einschüchterungsversuchen der Taliban am Telefon. So seien sie zu Befragungen einbestellt worden und ihnen seien nicht näher spezifizierte Konsequenzen im Zusammenhang mit ihrer früheren Arbeit angedroht worden. Mehrere ehemalige Polizistinnen und Vollzugsbeamtinnen wurden ermordet, mutmaßlich von Verwandten, die ihnen vorwarfen, mit ihrer Arbeit „Schande“ über die Familie gebracht zu haben. Die Taliban haben keine glaubhaften Ermittlungen zu diesen Morden eingeleitet. Die Frauen haben außerdem von rechtswidrigen Durchsuchungen ihres Zuhauses berichtet, bei denen Taliban auch Verwandte angriffen und persönliches Eigentum beschädigten.

Die befragten Frauen gaben an, dass sie unter der vorherigen Regierung häufig sexueller Belästigung und Übergriffen ausgesetzt waren. Einige wurden vergewaltigt; andere haben andersartige Formen sexueller Gewalt erfahren. Manchen wurde von ihren Vorgesetzten Sex als Gegenleistung für eine Beförderung angeboten oder als Bedingung genannt, um nicht gekündigt zu werden. Schon seit 2013 waren diese weit verbreiteten Übergriffe bekannt, auch in Ländern, die die frühere Regierung unterstützt hatten. Trotzdem wurden die für den Missbrauch verantwortlichen Polizisten nicht zur Rechenschaft gezogen.

Frauen, die unter der früheren Regierung Beamtinnen waren, unter anderem bei der Polizei, haben mit der Machtübernahme durch die Taliban ihren Job verloren. Zwar haben die Taliban einige Frauen für bestimmte Bereiche zurückgeholt, etwa für die Durchsuchung von Frauen an Kontrollpunkten und die Bewachung weiblicher Gefangener, die meisten finden jedoch nur schwierig eine neue Anstellung. Ehemalige Polizistinnen leiden daher besonders stark unter dem Zusammenbruch der Wirtschaft in Afghanistan.

Viele sind in den benachbarten Iran oder nach Pakistan geflohen oder haben versucht, in anderen Ländern Asyl zu beantragen. Die meisten der befragten Frauen berichteten von langfristigen psychischen Folgen und Traumata aufgrund des Missbrauchs. Psychosoziale Unterstützung für Frauen wie sie gibt es meist nicht oder sie können sich solche Dienste nicht leisten.

Die Taliban sollten alle Schikanen und Drohungen gegen ehemalige Polizistinnen und andere Beamtinnen der früheren Regierung einstellen und Vorfälle von Gewalt glaubwürdig untersuchen. Länder, die zuvor Programme zur Ausbildung und Einstellung von Frauen in der afghanischen Polizei unterstützt haben, darunter auch die USA, sollten die Asylsuchenden jetzt unterstützen und diesen Frauen im Rahmen von Resettlement-Programmen Vorrang einräumen.

Die USA sollten Polizistinnen, die in Afghanistan bleiben oder sich vorübergehend in Drittländern aufhalten und Schutz in den USA suchen, bei Neuansiedlungsprogrammen mindestens den gleichen Schutzstatus einräumen wie anderen gefährdeten Personengruppen. Großbritannien, die EU und ihre Mitgliedstaaten, Kanada und Japan sollten mehr Kapazitäten zur Neuansiedlung von afghanischen Geflüchteten bereitstellen und dabei gefährdeten Frauen Vorrang einräumen. 

„Die Unterdrückung von Frauen und Mädchen durch die Taliban trifft ehemalige Polizistinnen doppelt hart“, sagte Abbasi. „Regierungen, die afghanische Polizistinnen finanziert und ausgebildet haben, sollten die Taliban jetzt dazu auffordern, alle Übergriffe gegen Frauen und Mädchen zu beenden.“ 

 

Ausgewählte Zitate von ehemaligen Polizistinnen

Unter der früheren Regierung:

„Der Polizeichef des Bezirks ist nachts in ihr Haus eingedrungen und hat sie vergewaltigt. Ihr Mann war an diesem Tag nicht da. Sie hat vor mir geweint. Sie sagte, sie könne keine Anzeige erstatten, weil sie Angst davor habe, dass sich ihr Mann von ihr scheiden lässt und sie das Sorgerecht für ihre Kinder verliert.“

– Eine ehemalige Polizeibeamtin, die einen Vorfall aus der Zeit vor der Machtübernahme der Taliban beschreibt

„Von außen betrachtet schien alles in Ordnung zu sein, aber für die Mitarbeiterinnen war es das nicht. Ich habe miterlebt, wie Leibwächter Frauen belästigten, sie anhielten und sogar berührten … Der Leiter der nachrichtendienstlichen Abteilung meines Reviers hat mich definitiv belästigt. Er hat mir gesagt, dass er mit mir machen kann, was er will.“

– Eine ehemalige Polizistin aus Chost, die die Situation unter der früheren Regierung beschreibt

Seit der Machtübernahme durch die Taliban:

„Die Taliban riefen mich an und forderten mich auf, an meinen Arbeitsplatz zurückzukehren. Ich gab einen falschen Namen an, aber sie sagten, ich würde lügen und müsse um jeden Preis bei meiner Arbeit erscheinen. Ich bekam Angst und legte auf. Dann riefen sie wieder an und fragten diesmal: ‚Kommst du von selbst, oder sollen wir kommen und dich an den Haaren herzerren?‘“

– Eine ehemalige Polizistin, die untergetaucht ist

„Ich wurde am Telefon bedroht; eigentlich bin ich permanent bedroht … Wenn ich auf den Basar gehe, trage ich eine Maske und eine Brille, damit mich niemand erkennt … Wenn die Leute herausfinden, dass ich für die Polizei gearbeitet habe, könnten sie mich bei den Taliban verraten.“

– Eine ehemalige Polizistin, die untergetaucht ist

Your tax deductible gift can help stop human rights violations and save lives around the world.

Region/Land