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  • Die russische Regierung versucht seit ihrer großangelegten umfassenden Invasion der Ukraine im Februar 2022, die bürgerlichen Freiheiten weiter auszuhebeln. Damit verschärft sie ihren schon seit über mehr als ein Jahrzehnt anhaltenden Angriff auf die Grundrechte nun noch deutlicher.
  • Hunderte von Menschen wurden aufgrund neuer, repressiver Gesetze inhaftiert oder zu Haftstrafen verurteilt. Viele Themen können nicht mehr offen diskutiert werden, und viele Andersdenkende, Journalist*innen und Aktivist*innen sind ins Exil gegangen.
  • Die russische Regierung sollte ihre drakonischen Bestimmungen aufheben, Gesetze mit ihren internationalen Verpflichtungen in Einklang bringen und ein Umfeld für eine lebendige Zivilgesellschaft schaffen.

(New York, 7. August 2024) – Seit der großangelegten Invasion der Ukraine im Februar 2022 versucht die russische Regierung, die bürgerlichen Freiheiten weiter auszuhebeln. Damit verschärft sie ihren seit mehr als einem Jahrzehnt anhaltenden Angriff auf die Grundrechte nun noch deutlicher, so Human Rights Watch in einem heute veröffentlichten Bericht.

Der 205-seitige Bericht „Russia's Legislative Minefield: Tripwires for Civil Society since 2020“ (dt. etwa: Rechtliches Minenfeld für die russische Zivilgesellschaft seit 2020) nimmt die Welle repressiver Gesetze und Maßnahmen in den Blick, die die russische Regierung von Präsident Wladimir Putin seit 2020 mit dem Ziel verabschiedet hat, politischen Dissens zu unterdrücken und die Zivilgesellschaft handlungsunfähig zu machen. Diese Gesetze schränken das Recht auf freie Meinungsäußerung ebenso wie das Recht auf Vereinigungs- und Versammlungsfreiheit stark ein und zwingen die Gesellschaft dazu, sich im öffentlichen Diskurs an ein staatlich vorgegebenes soziales, politisches und historisches Narrativ zu halten. Hunderte von Menschen wurden aufgrund dieser Gesetze inhaftiert oder zu Haftstrafen verurteilt. Es ist nicht mehr möglich, sich öffentlich kritisch zu verschiedenen Themen zu äußern, und viele Andersdenkende, Journalist*innen und Aktivist*innen sind ins Exil gegangen.

„Die russische Regierung schafft ein rechtliches Minenfeld für zivilgesellschaftliche Aktivist*innen und Journalist*innen und stellt damit deren Widerstandsfähigkeit wie nie zuvor auf die Probe“, sagte Rachel Denber, stellvertretende Direktorin für Europa und Zentralasien bei Human Rights Watch. „Unabhängige Gruppen und Medien geben jedoch nicht auf. Das lässt darauf hoffen, dass Russland irgendwann zu einem Land werden kann, das sich dem Schutz und der Förderung der Grundrechte verpflichtet fühlt.“ 

Human Rights Watch hat diese repressiven Gesetze grob in acht Bereiche unterteilt: die Einstufung als „ausländische Agenten“, öffentliche Versammlungen, Wahlrecht, freie Meinungsäußerung, sexuelle Orientierung und Geschlechtsidentität, Hochverrat und ähnliche Konzepte, historische Wahrheit und Bildung.

Das wohl bekannteste repressive Gesetz unter der Putin-Regierung ist das Gesetz über „ausländische Agenten“, das darauf abzielt, jede Person oder Organisation, die unabhängig ist und sich kritisch über die Regierung äußert, als „ausländisch“ und damit als verdächtig oder gar verräterisch zu brandmarken. Die russischen Behörden haben das „Agentengesetz“ erstmals 2012 erlassen und seitdem wiederholt verschärft und als Vorwand benutzt, um einige der führenden Menschenrechtsgruppen des Landes zu verbieten. Der Bericht zeichnet nach, wie sich die Bestimmungen zunächst gegen Nichtregierungsorganisationen richteten, dann gegen nicht registrierte Gruppen, Medien, Journalist*innen und andere Personengruppen und bis 2022 gegen alle, die nach Ansicht des russischen Staats „unter ausländischem Einfluss stehen“.

Die Strafen wurden im Laufe der Zeit verschärft und umfassen nun Geld- und Freiheitsstrafen sowie den Entzug der Staatsbürgerschaft für Eingebürgerte. Von 2022 bis 2023 waren angebliche „ausländische Agenten“ durch Gesetzesänderungen von vielen Aspekten des öffentlichen Lebens ausgeschlossen, auch vom öffentlichen Dienst und der Lehre. In den Worten eines Aktivisten versuchten die Behörden, „eine Kaste von Unberührbaren“ zu schaffen.

Verschiedene Gesetzesänderungen machten das, was noch von der Versammlungsfreiheit übriggeblieben war, nun vollkommen zunichte. Legitime Proteste sind mittlerweile faktisch illegal, so Human Rights Watch. Die Behörden führten ein strenges Genehmigungssystem ein, nach dem Organisator*innen von Protesten eine ausdrückliche Genehmigung für eine öffentliche Versammlung einholen müssen. Sie setzten öffentliche Proteste mit wenigen Personen und Mahnwachen von Einzelpersonen mit Massenprotesten gleich und schlossen damit die wenigen Schlupflöcher, die Menschen bis dato genutzt hatten, um zu protestieren und die repressiven Bestimmungen für öffentliche Versammlungen zu umgehen. Die russischen Behörden führten extrem unrealistische Anforderungen für die Überprüfung der Herkunft von Geldern und Spenden für öffentliche Veranstaltungen und ihrer Verwaltungstätigkeiten ein.

Die kriegsbezogenen Zensurbestimmungen, die Russland nach der Invasion der Ukraine im Eilverfahren verabschiedet hat, verbieten die Verbreitung von Informationen oder Ansichten über das Verhalten russischer Truppen, die von den offiziellen Informationen abweichen. Zu den Strafen gehören lange Gefängnisstrafen, der Entzug der Staatsbürgerschaft für Eingebürgerte und die Beschlagnahme von Eigentum. Mehr als 480 Personen sind nach diesen Bestimmungen strafrechtlich verfolgt worden.

Eine andere Gesetzesänderung stellt außerdem Kritik an der Arbeit der Sicherheitsdienste mit dem vagen formulierten Tatbestand von „öffentlichen Aufrufen gegen die Staatssicherheit“ unter Strafe und sieht schärfere Tatbestandsmerkmale und Strafen für Verleumdung vor. 

Lesben, Schwule, Bisexuelle und Transgender (LGBT) erfahren in Russland schon seit Langem Diskriminierung, Belästigung und Gewalt, insbesondere im Zusammenhang mit dem Anti-Homosexuellen-„Propaganda“-Gesetz von 2013. Die seit 2022 verabschiedeten Gesetzesänderungen gehen noch darüber hinaus: Sie sind ein umfassender Angriff auf LGBT-Rechte, mit dem sich der Kreml auf der Weltbühne als Verteidiger „traditioneller Werte“ präsentiert, so Human Rights Watch.

Nach den Änderungen des Propagandagesetzes sind öffentliche Äußerungen zu sexueller Orientierung und Geschlechtsidentität sowie die Darstellung sogenannter „nicht-traditioneller Beziehungen“, die sich an Personen unter 18 Jahren richten, effektiv verboten. Selbst Bilder, die ein gleichgeschlechtliches Paar beim Händchenhalten zeigen, unterliegen diesen neuen Beschränkungen oder müssen als eingeschränkte, kostenpflichtige Inhalte gekennzeichnet sein. Buchhandlungen sahen sich bereits gezwungen, Bücher, die nach den neuen Gesetzen einen Verstoß darstellen könnten, zu verstecken oder sie ganz aus den Regalen zu nehmen.

Der Oberste Gerichtshof stufte 2023 die internationale LGBTQ+-Community als „extremistische Organisation“ ein und öffnete damit Tür und Tor für die willkürliche Verfolgung und Inhaftierung von LGBTQ+-Personen und allen, die ihre Rechte verteidigen oder sich mit ihnen solidarisch zeigen.

Nach der Verschärfung der Gesetze umfasst die Definition von Hochverrat auch Personen ohne Zugang zu Staatsgeheimnissen. Als Spionage gilt demnach auch die Weitergabe von Informationen an „feindliche Agenten“. Die Definition dieser „feindlichen Agenten“ wurde ebenfalls erweitert und schließt nun ausländische und internationale Organisationen ein. Die Verfasser*innen des Gesetzestextes gaben offen zu, dass die Bestimmungen zu Hochverrat explizit so abgefasst sind, dass sie zivilgesellschaftliche Gruppen einschließen. Andere Gesetze kriminalisieren die Zusammenarbeit mit internationalen Gremien, „denen Russland nicht angehört“, wie z. B. dem Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag, und die „vertrauliche Zusammenarbeit“ mit ausländischen Akteuren, die sich gegen die nationale Sicherheit Russlands richtet. Die neuen Bestimmungen verbieten auch die Zusammenarbeit mit nicht registrierten ausländischen Organisationen und erweitern das Verbot der Zusammenarbeit mit Organisationen, die von den Behörden als „unerwünscht“ eingestuft werden.

Einem Medienbericht zufolge, der sich auf russische Gerichtsdaten stützt, haben die Behörden im Jahr 2023 101 Fälle von Hochverrat, Spionage und vertraulicher Zusammenarbeit an russische Gerichte weitergeleitet, fünfmal so viele wie im Jahr 2022. Die Zahl der Menschen, die wegen der Beteiligung an „unerwünschten“ Organisationen strafrechtlich verfolgt werden, steigt weiter an. 

In der neuen Verfassung von 2020 wurde der der „Schutz der historischen Wahrheit“ verankert, zu dem sich Russland verpflichtet sieht. Im Jahr 2021 erließ das russische Parlament ein Verbot des Vergleichs zwischen dem Vorgehen der Sowjetunion und Nazi-Deutschlands während des Zweiten Weltkrieges sowie der Beleidigung von Kriegsveteran*innen.

Im weiteren Sinne setzten die Behörden ein offizielles Geschichtsnarrativ durch, das die Errungenschaften der Sowjet-Ära verherrlicht, während Stalins Großer Terror und andere Gräueltaten der Sowjet-Ära heruntergespielt, gerechtfertigt oder in einigen Fällen sogar bestritten werden, so Human Rights Watch.

Die 2021 verabschiedeten Gesetze sehen eine strengere Aufsicht über das Bildungswesen vor und schränken den Zugang der russischen Bevölkerung zu Informationen weiter ein; Alternativen zur historischen, sozialen und politischen Darstellung der Regierung werden nicht geduldet und der Umgang mit Ausländer*innen wird überwacht.

Die russische Regierung sollte den lang verfolgten Weg der Repression beenden und stattdessen ein Umfeld fördern, in dem sich die Zivilgesellschaft entfalten kann, so Human Rights Watch. Sie sollte die drakonischen Gesetze aufheben und den Empfehlungen der Vereinten Nationen und anderer zwischenstaatlicher Organisationen folgen, Gesetze und Praktiken in Einklang mit den internationalen Menschenrechtsverpflichtungen Russlands zu bringen.

„Der Kreml dreht die Uhr immer weiter zurück bis in die Zeiten der Tyrannei“, sagte Denber. „Russlands Gesetze sollten dafür sorgen, dass Rechte stärker geachtet werden, statt sie weiter auszuhöhlen.“

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